Es wäre sicher wünschenswert, wenn den Homöopathen weltweit Dokumentationen – im Gegensatz zu Veröffentlichungen, schriftlich oder mündlich – von Fällen zur Verfügung ständen. Es sollten Dokumentationen sein, die nicht anzuzweifeln sind – es ist sicher naiv anzunehmen, dass alle veröffentlichten Kasuistiken der Wahrheit entsprechen. Auch sollten es nicht nur Erfolgsberichte sein – das ist ein „publication bias“ [1] , wie es krasser nicht vorkommen kann. Solche veröffentlichten Dokumentationen gibt es für Menschen, die deutsch lesen können – z. B. Hahnemanns Krankenjournale.
Es war – und ist – das Ziel des Projekts, weitere Kasuistiken zu veröffentlichen, die, so wie die oben angesprochenen Journale, wortgenau von den Manuskripten im Archiv von IGM-Bosch (Institut der Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung) abgeschrieben sind und die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden. Als erstes habe ich dafür die Krankenakten Clemens Maria v. Bönninghausens ausgewählt, die ab 1835 – der Zeit als er die Homöopathie professionell ausgeübt hat – in etwa so wie die heutigen Krankenkarten ausgeführt wurden. Das bedeutet, dass jeder Patient ein individuelles Krankenblatt hat, wo sich dann die gesamte Krankengeschichte des Patienten findet. Die Einzelheiten dazu finden sich auf meiner Seite unter Projektbeschreibung.
Es ergab sich bei den Recherchen, dass mir eine kritische Auseinandersetzung mit den Veröffentlichungen v. Bönninghausens notwendig erschien. Die Begründung sind mit Hilfe von einigen Beispielen im Vorwort auf derselben Seite dargestellt. Im Hauptteil des Projekts gibt es dann auf meiner Seite außer Erklärungen, die für das Verständnis erforderlich sind, nur noch die Abschriften der Krankenblätter, deren Anzahl sich noch bis 100 erhöhen soll.
Zum Hauptteil
Man kann die Krankenakten am besten verstehen, wenn man sie wie einen Fließtext liest.
Als Beispiel: die ersten 3 Konsultationen des ersten Patienten, Klostermann, im ersten Journal:
Krankheitsform:
Schmerzlose Lähmung des rechten Schenkels, welcher verkürzt ist, ohne Geschwulst, mit Kältegefühl an demselben
Individuelles:
Anstrengung verschlimmert, – habituelle Verstopfung und Hartleibigkeit, – Neigung zur warmen Stube, – Schwindel beim Sehen in die Höhe, – Taumeligkeit beim Gehen im Freien; – (Ruhiges Gemüth (?) – Verdrießlichkeit und Ärgerlichkeit.
( Caust 3, Sep. 1 Sil 3 – Plumb Puls.) ??
Datum | Ordination | Erfolg und neue Zeichen |
1835 | ||
21 Apr. | Cocc C 30 2 G | wenig besser. – Nachts wieder Träume |
23 — | Oleand. C 30 2 G | Öffnung besser, Gehen besser, Träume fort |
24. — | S. lact. | jetzt viel gebessert |
Das bedeutet: “Am 21. April 1835 habe ich aufgrund des oben beschriebenen Krankheitsbilds Cocc. C 30 2 G gegeben. Danach wurde es wenig besser. Am 23. April habe ich Oleander C 30 2 G gegeben, darauf war die Öffnung besser, das Gehen besser, die Träume fort. Am 24. …..”
Zu den Abkürzungen: G = globuli, gta oder gutta = Tropfen, R = riechen. a x T bedeutet „alle x Tage im Wechsel“, a x St das entsprechend für Stunden.
- Bönninghausen hat anscheinend nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er oft mehrere verschiedene Mittel in einer vorher festgelegten Sequenz verschrieben hat. Er hat in zumindest zweien seiner Veröffentlichungen zahlreiche Fälle beschrieben, in denen er diese Methode angewandt hatte – was anscheinend Hahnemanns Vorliebe für ihn keinen Abbruch getan hat.
??..?? bedeutet. dass ich die Stelle nicht entziffern konnte, (..) bedeutet Klammer im Original, [..] bedeutet Anmerkung von mir.
Es ist noch wichtig für das Verständnis der Krankenakten, dass die Umstellung der Nahrung auf die „homöopathische Diät“ und wohl auch die entsprechende Umstellung der Lebensweise eine „conditio sine qua non“ war. Die geforderte Diät und Lebensführung entspricht der in Hahnemanns „Chronischen Krankheiten“ , wobei v. Bönninghausen mit dem Kaffee noch strikter zu sein scheint als Hahnemann es angewiesen hat. Ganz besonders wichtig ist es für ihn auch, alle „arzneilichen“ Stoffe zu meiden. All dies wird in seinem ersten, sehr ausführlich gehaltenen – Krankentagebuch von 1829/30 immer wieder erwähnt. Es wurde z. B. darin festgehalten, dass die „Wirkung eines Mittels gestört/aufgehoben“ war, weil eine Patientin einen Anisapfel gegessen oder eine andere für ihre Mutter einen Kamillentee gekocht hatte. Auch Gabe des Mittels während der Menses ist kontraindiziert, weiterhin kann praktisch alles, sei es Schreck, ein Fall ins Wasser …. die Wirkung stören.
Mit diesem Wissen im Hinterkopf kann man die Bedeutung von oft kryptischen Bemerkungen in den Krankenakten verstehen – wenn er z. B. bei einem Patienten schreibt: “Spargel gegessen”, “an Blumen gerochen”, “Anstreicher im Hause”, (also Terpentingeruch) etc., dann bedeutet das, dass das oder die Mittel aus diesem Grunde wohl nicht gewirkt haben.
Hier ist jetzt das Krankenblatt einer Patientin
Fol 41 VOL 3
NAMEN : Cath. Elsab. Beckmann
WOHNORT : Lienen ALTER: 21 Jahre
Krankheitsbild:
Seit ½ Jahr Reissen und Stechen im ganzen Körper bald hier, bald da, früh schlimmer, auch bei Bewegung und nach Warmwerden. – Abneigung gegen Brod. – Magenschmerz, bes. nach dem Essen, oft zum Lösen der Kleider nöthigend. – (Früher Krätze verschmiert mit Quecksilber.) – Früh nüchtern besseres Befinden. – Viel Durst nach mittags.
Allop. gebr.
Datum | Ordination | Erfolg und neue Zeichen |
1840 | ||
k |16 Febr.| a. 5 T | 1, 3, 5. Puls.2, 4 Br | Geheilt! Nun seit 6 Wochen Röcheln in der Brust und Husten ohne Auswurf, früh und Abends schl. und in Bewegung schl., mit Herzklopfen. – Kalter Auswurf und Kältegefühl in der Brust. – (Vor einigen Jahren nochmals die Krätze verschmiert) |
1848 | ||
k | 25 Juni
| a. 5. T. |
1. Nux vom, /2002. Phosph. /200
3, 4 § |
Mit Ausnahme des Herzklopfens viel besser; – Müdigkeit der Schenkel, Reissen in den Gesichtsknochen, Schwindel beim Bücken! – Früh schl. und in Bewegung. |
k | 30 Juli
| a. 5 T. |
1, 3 N. v. |
2. Sulph. | /200 4. $ |
Zum Vorwort
Auf meiner homepage habe ich 3 Veröffentlichungen v. Bönninghausens daraufhin untersucht, ob sie mit seinen Krankentagebüchern übereinstimmen – und diesen 3 Fällen gefunden, dass sie es keinesfalls tun – ich habe dies dort auch ausführlich diskutiert und dokumentiert. Hier ist einer dieser Fälle.
Die Geschichte von der Wunderbaren Heilung des Clemens v. Bönninghausen von der Schwindsucht – Mythos oder Tatsache?
Nach „Friedrich Kottwitz, Bönninghausens Leben”, (Berg am Starnberger See, 1985, S. 60/61) ist die Geschichte folgendermaßen gelaufen. (Der 1. Absatz ist ein Zitat von Kottwitz aus einem Lebenslauf v. Bönninghausens aus dem Archiv von IGM-Bosch)
Eine ernstliche Zerrüttung seiner bisher so dauerhaften Gesundheit im Herbste 1827, die von zweien der berühmtesten Ärzte, für eitrige Schwindsucht erklärt wurde, und sich bis zum Frühjahr 1828 immer verzweifelter gestaltete, war die erste Veranlassung, daß B. mit der Homöopathie bekannt. wurde. Als nämlich so ziemlich alle Hoffnung auf Genesung aufgegeben war, schrieb er einen Abschiedsbrief an seinen alten und unvergeßlichen botanischen Freund, den Med. Dr. A. Weihe zu Herford, welcher der erste homöopathische Arzt in ganz Rheinland und Westfalen war, ohne daß B. solches wußte, weil die häufige Korrespondenz zwischen Beiden sich stets nur um botanische Gegenstände herumdrehte. W., von dieser Nachricht heftig ergriffen, antwortete sogleich und verlangte eine ganz genaue Beschreibung der Krankheit und deren Nebenzeichen, und sprach die Hoffnung aus, daß er vermöge der neu entdeckten Heilmethode, vielleicht noch im Stande sein würde, einen ihm so schätzbaren Freund zu retten.
Ab hier fasst Kottwitz zusammen:
Weihe rettete ihn durch eine Gabe Puls(atilla) 30, der er 4 Wochen später eine Gabe Sulph[ur] 30 folgen liess, das Leben ]…]. Mehr war zur Herstelllung nicht nöthig […], obwohl die Krankheit über 9 Monate gedauert hatte und [… er sich] bereits ausser Stand [fühlte], auch nur hundert Schritte ohne Ausruhen zu gehen.
Zum Vergleich die Eigenanamnese v. Bönninghausens im Nov. 1829, wie sie in seinem ersten Krankentagebuch dokumentiert ist.
20.Egomet ipse.
Frühere heftige und lange anhaltende Gicht, das vorigjährigen und noch nicht völlig getilgte Blutspeien, ferner Haaraussfallen, leichte Verkältlichkeit, leichtes Verhäben, Schweiß bei der geringsten Bewegung u. d. gl. mehr geben Anzeigen genug, daß auch hier Psora vorhanden seie, und, ohne eben von diesen Beschwerden sonderlich belästigt zu sein, war doch völlige Gesundheit so wünschenswerth, dass der Beschluß leicht ge fast wurde, ebenfalls die leichte antipsorische Kur zu gebrauchen.
die Überzeugung von der sehr merklichen Wirksamkeit der kleinen dosen homöopathischer Arzneien stand ohnedem fest, durch die eben so schnelle als treffliche Wirkung, welche Nux vomica und Dulcamara, letztere bei Erkältungsübeln, denen ich sehr ausge setzt bin, bereits gezeigt haben.
Noch am 3. Nov. d. J. heilte Nux vomica in 10 Minuten Abends einen Schwindel, wahrscheinlich von übermässigen Kopfarbeiten und Stubensitzen entstanden, der aber auf einer Promenade vor dem Thore nicht verging. Ein Tropfen C 12, Abends genommen, erzeugte eine sehr bedeutende Vermehrung dieses Schwindels, so daß ich glaubte, närrisch zu wer den, und 10 Minuten nachher war ich völlig hergestellt. [i]
Hier fällt sofort auf, dass er bei den Mitteln, die ihn von der Wirksamkeit der Homöopathie überzeugt haben, Pulsatilla und Sulfur mit keinem Wort erwähnt, dagegen Dulcamara und Nux vomica enthusiastisch lobt. Würde die Geschichte seiner wundersamen Heilung durch Pulsatilla und Sulfur auf Tatsachen beruhen, so wäre ein Auslassen dieser Mittel doch wirklich das allerseltsamste Phänomen, das man sich denken kann. Bestimmt hätte er doch ihre Wirkung, ihn vom Tode zu erretten, als wichtiger und bemerkenswerter angesehen als die Wirkung von Dulcamara bei seinen Erkältungen oder von Nux vom. bei seinem Schwindel!
Es wäre auch völlig unverständlich (und völlig untypisch für das 1. Krankentagebuch), dass er eine solch schwere Vorerkrankung vor gerade mal einem Jahr in seiner Anamnese nicht erwähnt hätte.
In zumindest einigen seiner Veröffentlichungen hat v. Bönninghausen dagegen seine Krankenakten wortwörtlich zitiert. Z. B. beschreibt die Geschichte von Joseph Rentchen auf S. 39 f in Gypsers Ausgabe der Kleinen Homöopathischen Schriften eine wirklich tolle Heilung, die haargenau so dokumentiert ist wie v. B. es beschrieben hat. Dasselbe gilt für die Veröffentlichung auf S. 57, die Krankengeschichte des Freiherrn von Korff. Weiterhin hat mich Frau Marion Baschin, die an einer Dissertation über v. Bönninghausen arbeitet, darauf hingewiesen, dass sie aus der späteren Zeit in den Krankenakten mehrere Fälle gefunden hat, die genau mit Veröffentllichungen übereinstimmen.
Von der nächsten Geschichte kann man das wiederum nicht behaupten. Sie liest sich in seinem Artikel folgendermaßen:
- Die nachfolgende Geschichte kann nur in sofern Belehrung geben, als die große und dauerhafte Wirksamkeit der kleinsten Gaben, welche jetzt so vielfach bestritten wird, dadurch einen neuen Beleg erhält.- S. A. zu M., ein zum Gerippe abgemagertes Mädchen von 20 Jahren, war von den sie behandelnden allop. Aerzten als unheilbar schwindsüchtig aufgegeben, als die trauernden Eltern mich am 14. Febr. 1835 baten, mich ihres einzigen Kindes anzunehmen und wenigstens zu versuchen, ob noch Rettung möglich sei. Ich selbst hatte keine Hoffnung und trug daher in mein Journal nichts ein, als: Phthisis tuberculosa arthritica consummata, mit Geschwulst der schmerzhaften Glieder und seit 1/2 Jahren mangelnder Periode [..] und ich gab ihr daher an obigem Tage zuerst eine Gabe Bryonia C 30 1 globulus,
Jetzt wieder zum Vergleich, aus dem Krankentagebuch:
- Febr. Sophie Ardtmann (Gliederschmerzen mit Geschwulst) Bry. C 30 2 globuli,
Von Tuberkulose keine Rede.
Die Skepsis der Schulmedizin und auch der Wissenschaft im Allgemeinen auf gegenüber anekdotischen Berichten und nicht überprüfbaren Ergebnissen von Studien der Homöopathie ist durchaus als berechtigt anzusehen. Diese Skepsis bezieht sich ja nicht nur auf die Homöopathie – wo sie allerdings mit Gehässigkeit gepaart ist – sondern auch auf die Schulwissenschaft selbst – und auch in letzterer hat sie bestimmt ihre Berechtigung bewiesen.
Damit komme ich als Abschluss zurück auf den Zweck meines Projekts. Es ist als sicher anzusehen, dass die Ärzte, in der Vergangenheit wie heute, in ihren Krankenakten die Wahrheit geschrieben haben. Deshalb können wir wortgetreue Abschriften der Krankenakten als Beweise für die Wirksamkeit der Homöopathie anführen – Veröffentlichungen sind dazu nicht geeignet.
[1] publication bias bedeutet, dass für die Veröffentlichungen eine „bias“, sozusagen „Vorbedingung“ vorliegt, dass man also z. B. vorwiegend Erfolge einer bestimmten Methode aufnimmt.
[i] Archiv IGM Bosch P 151 Patient Nr. 20